Peter

27.1.2020


Lieber Günther,

nachdem nun Monika mit Ihrer Tochter wieder nach Hause gefahren ist, will ich Dir einmal schreiben.

Da Du an meine saumäßige Handschrift nicht gewöhnt bist, schreibe ich mit der Maschine. Ich schreibe einfach alles so runter, wie es mir in den Kopf kommt. Achte also bitte nicht allzu streng auf Rechtschreibung, Grammatik und Form, wichtig ist nur der Inhalt, meine ich.

Dein Anruf vom Mittwoch letzter Woche klingt natürlich noch in mir nach. Du hast mir kein Geheimnis verraten, als Du Dich als Alkoholiker offenbart hast. Dein Verhalten, das Du in den letzten Jahren gezeigt hast, kenne ich aus meiner eigenen Saufzeit. z.B. feste Termine zusagen (in diesem Falle zu einem Besuch bei den Eltern für ein gemeinsames Wiedersehen) und dann die Absage im letzten Moment unter fadenscheinigen Begründungen.

Als ich Hannelore verlassen hatte, sollte ja für mich die große Freiheit beginnen. In meiner törichten Unwissenheit hatte ich sie für meine Trinkerei verantwortlich gemacht und ihr immer wieder gesagt: "Bei solch einer blöden Frau wie die muß man ja saufen. Warte mal ab. wenn ich mich von dir habe scheiden lassen, dann brauche ich keinen Alkohol mehr."

Es fiel mir später sehr schwer, mir und anderen (in der Gruppe der Anonymen Alkoholiker) einzugestehen, dass ich
Hannelore zur damaligen Zeit verlassen habe, um hier in meiner neuen Wohnung in Ruhe zu saufen. Sicher war unsere Ehe unendlich zerstört. Doch damals, Ende 1985, war der Grund für die Trennung, ohne Hannas und der Kinder ewige Vorwürfe, mich zu betrinken.

Grund war nicht Hannelore, sondern meine Alkoholkrankheit. Und so fing ich nun erst richtig an. mich vollzukippen. Jeden Abend wollte ich mit meiner neuen Freiheit etwas anderes machen, und jeden Abend war ich total besoffen. Wie oft habe ich zum Telefonhörer gegriffen und Verabredungen abgesagt, weil ich angeblich noch in der Firma Uberstunden machen mußte. Bis ich nachher Gesichtslähmungen hatte, keine Teetasse mehr halten konnte und schon gar keine Unterschriften unter Geschäftspost setzen konnte.
Nicht mal einen Scheck konnte ich mehr ausfüllen. Da stand ich bei der Sparkasse vor der Angestellten, log ihr vor. ich hätte meine Brille vergessen, weshalb sie doch bitte mal den Scheck ausfüllen solle.

Und zum Schluß habe ich die Wohnung nur noch zum Spritholen verlassen, auf Hausschuhen, über den Schlafanzug den Parka und die Cordhose gezogen. Da trank ich hier wochenlang im Bett, fiel auf den Boden, schiß mir die Hosen und das ganze Zimmer voll. Dabei hatte ich außer Thunfisch aus der Dose nichts gegessen. Bis dahin war ja nichts mehr ohne Alkohol gegangen, aber eines Morgens hatte ich einen lichten Moment, in dem mir klar wurde: Es geht ja auch nichts mehr mit Alkohol.

Ich lag da in der eigenen Scheiße und wusste: Wenn ich nicht aufhöre, krepiere ich elendig.

Tod oder Leben !! Und ich wollte leben! Ganz schaffte ich es nicht, mit dem Trinken aufzuhören, zu gräßlich waren die Entzugscrscheinungen.  Heute weiß ich. dass ich haarscharf an einem Delirium vorbeigeschrammt bin, das dann allerdings, nach über vier Monaten doch noch als sogenanntes Trockendelirium kam. Aber da hatte ich den Schutz der Klinik. Damals trank ich also ganz kleine Mengen Alkohol, gemessen an den Unmengen vorher war das praktisch nichts mehr.

Ich hatte das Glück, daß ich dann schon nach einer Woche einen Krankenhausplatz zur Entgiftung bekam und von diesem Tag an trinke ich nun überhaupt keinen Alkohol mehr. Das hört sich jetzt so leicht an. aber jeder Alkoholiker weiß.-was alles passiert auf dem langen Weg vom "ich darf nicht trinken" über "ich will nicht trinken" zum "ich brauche nicht zu trinken."

Ich habe sieben Monate stationärer Therapie gebraucht, um nur eins und eins wieder zusammenzählen zu können. Ich war total unten und spüre heute noch gelegentlich, was ich mir mit dieser Sauferei angetan habe. Ich mußte wieder lernen, allein in eigener Verantwortung mein Leben in die Hände zu nehmen. Aber im Nachherein war alles bestens, so wie es gekommen ist. Und deshalb bin ich ein glücklicher, weil trockener Alkoholiker.

Ich mußte mein Leben total verändern. Und das konnte ich nur. weil ich total am Ende war.

Ein Weitergehen auf dem alten Weg hätte mich in den fürchterlichen Alkoholtod getrieben. Und wäre ich kein Alkoholiker geworden, säße ich auch heute jeden Abend vor der Glotze, würde herumjammern, daß ich doch eigentlich ein anderes Leben führen wollte und mir zwei drei Bier genehmigen, um mein tristes Dasein zu "verschönen".

Du sagtest, Du könntest Dir nicht vorstellen, immer auf Dein Bier verzichten zu müssen. Während der Therapie in Bremen mußten wir auch Selbsthilfegruppen besuchen. Da saßen Leute, die feierten mit einem Blumenstrauß ihren

1 .Trockengeburtstag.

Einige erzählten, daß sie vier Wochen nichts getrunken hätten. Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen - auch nur einen Tag ohne Alkohol!

Ich war fest davon überzeugt, daß ich noch am Entlassungstag mir am Bremer Hauptbahnhof wieder ein Bier besorgen würde. Dann feierten wir in der Klinik einen Grillabend. Da dachte ich still bei mir, daß ich nie wieder zum Grillen gehen könnte, weil ich doch kein Bier mehr trinken dürfte. Denn Grillen und Bier waren doch immer eine Einheit -ebenso wie Fernsehen und Alkohol.
Sich ein Leben ohne Alkohol vorzustellen, das schafft kein Alkoholiker, schon gar nicht am Anfang seiner Trockenheit. Darum empfehlen ja die AAs. nur für einen Tag trocken zu sein, und das jeden Morgen neu.

Und da sind wir beim Thema „Nicht jeder muss eine "Therapie haben, um trocken zur werden.“ Aber ohne Selbsthilfegruppe schafft das keiner. Und ohne Selbsthilfegruppe ist es auch unmöglich, trocken zu bleiben. Das lehren einfach die unzähligen Rückfälle. Und wenn Du für Dich erkannt hast, daß Du ein Alkoholproblem hast, dann gehörst Du schnellstens in eine Selbsthilfegruppe. Du mußt ja nicht erst ganz unten sein, wohin Du unweigerlich kommst, wenn Du weitertrinkst. Denn Alkoholiker haben nur drei Möglichkeiten: Entweder totale Abstinenz, die Irrenanstalt oder gleich den Tod.

Aber ich weiß ja selbst, wie leicht sich das sagt und wie schwer es ist. Steig aus Deinem Suchtmittel aus, indem Du bei
den AAs einsteigst
Und noch ein Tip. In den ersten Wochen meiner Trockenheit hat mir gegen meine innere Unruhe sehr geholfen, viel zu trinken. Ich trank am Tag mindestens 4 bis 5 Flaschen Mineralwasser, einigen Kamillentee, aß unwahrscheinlich viele Apfelsinen sowie Äpfel und fraß wie ein Verrückter Joghurt.
Es war mir alles recht, wenn ich damit eines erreichte: Mein Verlangen nach Alkohol in die Schranken zu weisen. Einige Leute sollen Gras gefressen haben, weil sie nicht mehr trinken wollten.

Und höre auf. bei Dir Nabelschau zu halten. Du trinkst nicht abhängig Alkohol, weil Dich Mammi zu heiß gebadet, Dich Papi zu laut angebrüllt hat oder weil ich immer einen Apfel in unserem gemeinsamen Kinderzimmer gegessen habe, wenn Du schlafen wolltest. Der Gründe gibt es viele, warum Leute zur Flasche greifen. Schon Wilhelm Busch schrieb: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!
Du kannst mit dem Saufen nicht aufhören, weil Du alkoholkrank bist, weil Du den Kontrollverlust erlitten hast. Und ich auch ! Wir können nicht kontrolliert trinken.
Und solange du diesen Kampf gegen die Flasche kämpfst, geht es mit Dir bergab. Erst wenn Du kapitulierst, kannst Du
siegen.
Das ist eben ein scheinbares Paradoxon und deshalb so schwer zu begreifen: Den Kampf gegen den Teufel Alkohol dadurch zu gewinnen, dass man nicht mehr kämpft, sondern aufgibt.
Eigentlich lernen wir doch, daß der siegt, der als stärkerer kämpft. Als mir ein Arzt in der Therapie einmal richtig wütend sagte, ich solle endlich schwach werden, damit ich stark sein könne, begriff ich überhaupt nicht, was der meinte.
Wochenlang zerbrach ich mir darüber den Kopf. Für uns als Alkoholiker heißt die Kapitulation, das erste Glas stehen zu lassen. Denn auch wenn war es uns tausendmal fest vorgenommen haben, nur dieses eine Glas Bier zu trinken, so sind wir schnell wieder beim Zweiten, beim Dritten, bis zum Zusammenbruch.

Ich kam abends aus der Firma nach Hause hier in meine Bude. In Hut und Mantel stürzte ich mich auf den Kühlschrank, nachdem die Aktentasche in die Ecke geflogen war. Nur einen kleinen Korn wollte ich trinken, mehr auf gar keinen Fall!

Und dabei wußte ich doch, daß es bei diesem einen Glas nicht bleiben würde. Das hatten mich doch tausende anderer Abende bereits gelehrt. Und jeden Abend lag ich dann total abgefüllt auf dem Sofa, habe nichts gegessen, duschte nicht mehr und wechselte auch meine Büroklamotten nicht mehr gegen Freizeitkleidung.
Und am nächsten Morgen stieg ich wieder in diese Klamotten, vernachlässigte auch die Rasur. So begann ganz allmählich auch mein sozialer Abstieg. Und wenn ich heute einen Penner sehe, dann denke ich, daß mich nur ein Glas Alkohol von ihm trennt. Und dann durchströmt mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, daß ich keinen Alkohol mehr trinken muß, weil ich jeden Tag das erste Glas stehen lassen darf.

Lieber Günther, inzwischen ist es doch schon ziemlich spät geworden. Der Brief ist länger geworden als beabsichtigt. Aber das macht gar nichts. Mir hilft dieser Brief, denn ich erinnere mich dadurch an meine eigene Saufzeit. Dieser Brief ist das Einzige, was ich für Dich tun kann. Denn ich und jeder andere Mensch ist gegenüber Deinem Alkoholismus völlig machtlos. Nur Du allein kannst da herauskommen.

Ich weiß, daß Du einen schweren Weg vor Dir hast. Aber er ist gangbar und zu bewältigen. Und dieser Weg lohnt sich wirklich. Es liegt bei Dir. Es tut mir weh wenn ich sehe. wohin Du fallen wirst, wenn du dich nicht für diesen Weg entschließt.
Du warst immer ein Mensch mit Träumen und Illusionen, hattest Ziele, hattest viele Talente und Interessen, Neigungen und immer den Drang nach tieferer Erkenntnis. Unsere Gespräche damals, bei Dir im Garten in Elmshorn haben mir immer viel gegeben und ich habe Dich immer bewundert wegen Deiner astronomischen Forschungen (weißt Du noch, die Nächte im Garten, mit Deinem Fernrohr, auf der Suche nach Saturn, Jupiter und dem Andromeda-Nebel ?). Mir wäre es viel lieber. Du würdest wieder in die Sterne gucken, anstatt ins Glas !
Seit einiger Zeit habe ich hier eine zweite Schlafmöglichkeit und ich habe mir immer gewünscht, Du kämest mal auf ein Wochenende hierher und wir würden mal wieder einfach nur so zum Spaß über Gott und die Welt reden. Du bist nämlich einer der wenigen, mit dem ich das kann. Oder muß ich leider schon sagen " mit dem ich das konnte"?
Aber vielleicht klappt es doch bald einmal. Allerdings müßtest Du Dich beeilen, denn ich habe in der Nähe von Schwerin ein schönes altes Bauernhaus gefunden, das ich kaufen werde. Und ich werde Monika heiraten und wir werden dort wohnen.

Nüchtern ist nämlich nichts unmöglich!

Ich wünsche Dir die Kraft. Dich für das Leben zu entscheiden.


Dein Bruder Peter



Hamburg im März 1993



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